Und er bewegt sich doch – der Bundesrat will mit der EU verhandeln

Unerwartet klar spricht sich die Regierung für die Aufnahme neuer Verhandlungen mit der Europäischen Union aus. Sie beruft sich auf einen wichtigen Akteur und setzt die Sozialpartner unter Druck.

Fabian Schäfer, Tobias Gafafer, Christof Forster 5 min
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Aussenminister Ignazio Cassis soll bis im Juni die Eckwerte eines Mandats für Verhandlungen mit der EU erarbeiten.

Aussenminister Ignazio Cassis soll bis im Juni die Eckwerte eines Mandats für Verhandlungen mit der EU erarbeiten.

Anthony Anex / Keystone

Mit dem Erwartungsmanagement in der Europapolitik ist es so eine Sache. Schon zigmal wurde ein Durchbruch erwartet, der dann ausgeblieben ist. Nun läuft es umgekehrt. Am Mittwoch hat der Bundesrat wieder einmal an einer mehrstündigen Klausur über die Beziehungskrise mit der wichtigsten Partnerin der Schweiz diskutiert. Die Erwartungen waren bescheiden, man rechnete mit neuen Durchhalteparolen.

Heraus kam es anders: Der Bundesrat hat das Departement von Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) beauftragt, bis Ende Juni die Eckwerte eines Verhandlungsmandats zu erarbeiten. Mit an Bord sind Elisabeth Baume-Schneider (SP), die für die Zuwanderung zuständig ist, sowie der Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP), der Lösungen für den heiss umkämpften Lohnschutz ausarbeiten muss.

Neues Vertragspaket 2024?

Allgemein war erwartet worden, dass der Bundesrat die nächste Runde der Sondierungsgespräche mit der EU am 20. April abwartet. Nun erhält die Chefunterhändlerin Livia Leu jedoch bereits den Auftrag, an diesem Tag die «gemeinsame Basis für zukünftige Verhandlungen zu finalisieren».

Damit hat der Bundesrat zwei Jahre nach dem Scheitern des Rahmenabkommens zwar noch nicht formell die Aufnahme neuer Verhandlungen beschlossen. Doch der Schritt in diese Richtung geht so weit, dass er kaum noch zurückkann. Das anvisierte Paket ist ambitioniert: Es soll die alten Streitfragen klären, Kooperationen in der Forschung und weiteren Bereichen sicherstellen sowie neue Abkommen zu Themen wie dem Strom umfassen. Dieses Grossprojekt will der Bundesrat nun offensichtlich mit der amtierenden EU-Kommission abschliessen, deren Amtszeit 2024 endet. Dazu müssten die Verhandlungen wohl noch dieses Jahr beginnen.

Woher nimmt der Bundesrat nach dem langen Zögern die plötzliche Zuversicht?

Eine Rolle spielte offenkundig der Besuch im März von Maros Sefcovic, dem Vizepräsidenten der EU-Kommission, der für die Schweiz zuständig ist. Nach einem Referat kam es zu einem Treffen mit Cassis. Im Gegensatz zur ersten Begegnung 2021 verlief es ohne Misstöne. Sefcovic beharrte zwar auf den Forderungen der EU, war aber gekommen, um zuzuhören. Er traf auch die Aussenpolitiker des Parlaments – und machte dabei Aussagen zur Streitbeilegung, die Hoffnungen weckten.

Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller fragte Sefcovic, welche Rolle das Bundesgericht habe. Dieser sagte, das Bundesgericht sei auf Schweizer Territorium zuständig und der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der EU. Damit deutete Sefcovic zumindest an, dass auch eine andere Lösung als im gescheiterten Rahmenvertrag denkbar wäre, solange der EuGH eine Rolle spielt, wenn es um EU-Recht geht.

Kantone haben den Weg geebnet

Vor allem aber haben die Kantone dem Bundesrat letzten Freitag den Rücken gestärkt. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) stellte sich einstimmig hinter neue Verhandlungen. Bei heiklen Punkten wie der Streitbeilegung ist sie zu Zugeständnissen bereit. Der Bundesrat verwies explizit auf diese Stellungnahme: Der Dialog mit den Kantonen habe es ermöglicht, für die Staatsbeihilfen und Zuwanderungsfragen Lösungsansätze zu definieren. Diese hätten zu einem gemeinsamen Verständnis mit der EU geführt und sollten nun weiter verfeinert werden.

Die Kantone sind bei den Beihilfen grundsätzlich bereit, in den Bereichen mit Marktzugangsabkommen die EU-Regeln zu übernehmen. Zudem verlangen sie, dass die Überwachung durch eine Schweizer Behörde erfolgt. Bei der Unionsbürgerrichtlinie, die Fragen wie das Aufenthaltsrecht regelt, haben die Kantone Ansätze eingebracht, etwa bei den Anmeldefristen. «Wir haben unsere Arbeit getan», sagt Roland Mayer, der Generalsekretär der KdK. Nun sollten alle Seiten Vorschläge machen.

Mayer tönt damit an, dass der Dialog zum Thema Lohnschutz bis anhin ergebnislos verlaufen ist. Der Bundesrat hat nun klare Aufträge verteilt: Das Wirtschaftsdepartement muss mit den Sozialpartnern und Kantonen Vorschläge erarbeiten. Die Rede ist von Massnahmen, die das gegenwärtige Schutzniveau auf dem Arbeitsmarkt «inländisch absichern». Denkbar wäre zum Beispiel, Gesamtarbeitsverträge einfacher allgemeinverbindlich zu erklären, was die Linke schon lange fordert.

«Brauchen den besten Lohnschutz»

Zentral ist die Rolle der Gewerkschaften, da die SVP jede institutionelle Lösung mit der EU ablehnt. Zum neusten Entscheid gibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) keine Wertung ab, pocht jedoch auf seinen Forderungen. «Der Lohnschutz und der Service public müssen gewährleistet sein, sonst können wir nicht zustimmen», sagt der SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Pragmatische Anpassungen im Vollzug seien möglich. Hingegen wäre es gemäss Lampart mit «grossen Risiken» verbunden, den Lohnschutz einer wie auch immer gearteten Einflussmöglichkeit des EuGH zu unterstellen. «Die Schweiz braucht weiterhin den besten Lohnschutz in Europa, weil sie die höchsten Löhne hat und so offen ist wie wenige andere Länder.»

Bleibt die entscheidende Frage: Ist es angesichts der Sondierungen mit der EU realistisch, eine Lösung zu erzielen, die für die Gewerkschaften akzeptabel ist? Dies zu beurteilen, sei Aufgabe des Bundesrats, sagt Lampart. «Der Bundesrat kennt unsere Position und die der EU.» Fakt sei, dass die Arbeitnehmenden den bilateralen Weg nur unterstützten, wenn er ihnen nütze.

Mitte-Präsident warnt

Die Parteien reagieren unterschiedlich auf den Entscheid. Der SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann spricht von guten Nachrichten. Zum ersten Mal versuche der Bundesrat, den Lohnschutz mit eigenständigen Massnahmen abzusichern, die kompatibel seien mit EU-Recht. Für Nordmann sind die Probleme zwischen der Schweiz und der EU lösbar. Sefcovic habe bei seinem Besuch angedeutet, dass Brüssel beim Lohnschutz flexibler sei als angenommen.

Dass die Verhandlungen ausgerechnet in ein Wahljahr fallen, störe ihn nicht. Die SP-Wählerschaft wolle ein Ergebnis. Ein Problem habe die Partei nur dann, wenn dieses Ergebnis schlecht sei. Nordmann rechnet indes nicht damit, dass das Abkommen noch vor den Wahlen Ende Oktober unter Dach und Fach sein wird.

Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister dagegen zeigt sich über den Entscheid überrascht. Es blieben viele Fragen offen. So sei nicht klar, wie die Regierung das Schweizer Lohnniveau sichern und die Sozialwerke schützen wolle, sagt Pfister. Das Bekenntnis zu sozialer Verantwortung sei nicht glaubwürdig, wenn der Bundesrat gleichzeitig bei der AHV sparen wolle. Ohne Konsens unter den Sozialpartnern hat ein Abkommen mit der EU laut Pfister keine Chance. Mit dem Vorpreschen setze sich der Bundesrat unnötig unter Druck. Im schlimmsten Fall werde er im zweiten Anlauf wieder scheitern.

Die FDP, die Partei von Aussenminister Cassis, äussert sich diplomatisch. Man begrüsse den Entscheid des Bundesrats, sagt der Fraktionspräsident Damien Cottier. Dies zeige, dass das Dossier in eine neue Phase komme.

Bei Involvierten in der Verwaltung herrschte am Mittwoch eine gewisse Genugtuung, dass der Bundesrat sich zu diesem Entscheid durchgerungen hat. Dieser scheint bereit zu sein, Risiken einzugehen – und dies mitten im Wahljahr. Das hatten ihm nicht viele zugetraut.

Die Schweiz will bis Ende Juni die Eckwerte für ein Mandat zu Verhandlungen mit der EU erarbeiten.

Die Schweiz will bis Ende Juni die Eckwerte für ein Mandat zu Verhandlungen mit der EU erarbeiten.

Peter Schneider / Keystone
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